Dreisameck 1980
Gerhard Frey ist heute der Geschäftsführer der Buchhandlung Jos Fritz. In die 80er Jahre versucht er die Räumung des Dreisamecks zu verhindern. Er erzählt die Geschichte des Hauses so:
Um die Freiburger Hausbesetzungen historisch einzuordnen, muss man 1975 mit der Anti-AKW-Bewegung in Wyhl anfangen. Da waren nicht nur die Bauern vom Kaiserstuhl aktiv, sondern auch viele Studenten aus Freiburg. Parallel dazu gab es in der Stadt erstmals Studenten, die sich billigen Wohnraum für Wohngemeinschaften erobern wollten. Die wurden als neue, alternative Lebensform proklamiert.
Wohngemeinschaften sollten keine Zweck-WGs sein. Die Bewohner wollten auch ihre Freizeit zusammen gestalten und richtig gemeinsam leben. Mitte der 1970er Jahre wurden in Freiburg die ersten Häuser besetzt: leerstehende Gebäude, die vom Abriss bedroht waren. Ein weiterer Hintergedanke der Besetzungen war, der wachsenden Kommerzialisierung der Innenstadt entgegenzuwirken.
Das Karree Kaiser-Joseph-Straße 282-286 und Schreiberstraße 2 und 4 bildeten das so genannte Dreisameck. Es gehörte größtenteils dem Immobilienmakler Selz. Die Wohnungen standen leer, weil der Eigentümer geplant hatte, das Karree abzureißen und einen Neubau zu errichten. Selz wollte Häuser, die in schlechtem baulichen Zustand waren, günstig aufkaufen, abreißen und dann etwas draufbauen, was höhere Rendite bringt.
Die Besetzer haben im Jahr 1977 die Türen der Dreisameck-Wohnungen in der Kajo aufgebrochen. Sie sind reingegangen, mit vielen Unterstützern, haben die Fensterläden aufgemacht und eine Party veranstaltet. Etwa 30 Leute pennten da in der ersten Nacht in ihren Schlafsäcken, verbarrikadiert.
Bald nahmen sie Kontakt auf zum Eigentümer. Herr Selz hat einen Mietvertrag mit ihnen abgeschlossen, die ab diesem Zeitpunkt keine Besetzer mehr waren. Der Vertrag war auf zwei Jahre befristet. Selz musste aber 78/79 Konkurs anmelden. Deshalb hat er den Mietvertrag wieder gekündigt, um seinen ursprünglichen Plan doch durchzuführen. Die Zürich Versicherung hat das Gebäude tatsächlich gekauft. Ab da war klar: Die Bewohner sollen raus. Im Frühjahr 1980 ging die eigentliche Besetzung erst los.
Das Dreisameck war mittlerweile nicht mehr nur günstiger, stadtnaher Wohnraum, sondern auch Kulturzentrum. Dort entstand der Arbeitskreis Alternative Kultur, der heute noch im E-Werk agiert. Das Kulturzentrum lag im Eckhaus, Kajo 286. Es war chaotisch, ein wenig dreckig. Du liefst rein und musstest dich orientieren. Wo findet was statt?
In jedem Stockwerk lief irgendwas anderes: Leute haben eine Zeitung gemacht, in einer anderen Etage gabs eine Kneipe. Die Organsisation war, wenn man so will, anarchistisch. Manche hat das leicht verängstigt. Aber wenn man sich auf dieses Chaos eingelassen hat, hat sich eine sehr offene Atmosphäre entwickelt, in der man gute Gespräche führen konnte.
Harmonisch war es nicht immer. Wir hatten Probleme mit Dealern, die auch harte Drogen verkauft haben. Trotz der mangelnden Organisation gab es bestimmte Personen, die Verantwortung übernahmen. Obwohl alles immer erst in Plenen besprochen werden musste, bildeten bestimmte Wortführer eine informelle Hierarchie. Die haben mitunter auch die Dealer rausgeschmissen und außerdem dafür gesorgt, dass wohnungslose Diebe sich nicht mehr blicken ließen.
Es kamen oft Bands und Theatergruppen, auch aus der Schweiz, die bei uns auftreten wollten. Auch Lesungen fanden statt. Es war wie eine offene Bühne, selektiert wurde nicht. Es bildete sich eine Freiburger Bandszene. Genial war übrigens der Gig der Hosen, später, 1982, im AZ-Keller im Glacisweg.
Die Kulturgruppe im Haus war sehr wichtig. Uns war klar: Wir können das Dreisameck nur retten, wenn wir möglichst viele Leute mobilisieren und interessieren für das, was dort stattfindet. Die Kulturveranstaltungen waren dafür ein Transportmittel.
Die Räumung des Dreisamecks fand der 8. Juni 1980 statt. Starke Polizeikräfte fahren von Lahr aus nach Freiburg, aber unser Kulturzentrum lassen wir uns nicht so einfach wegnehmen. Die Stimmung war sehr solidarisch. Nachdem teilweisen Abriss wurde eine große Demonstration organisiert. Es kamen 10.000 Leute. Das war für Freiburg eine unbekannte Dimension. Auch gut situierte Bürger haben sich aufgeregt: „Dieser Polizeieinsatz passt nicht zu Freiburg!“. Aus dieser Bewegung heraus kommt glaube ich auch die langläufige Vorstellung, Freiburg sei anders. Das hat dort seinen Ursprung. Wir wollten nicht, dass die Stadt durchkommerzialisiert wird, dass die schönen Jugendstilhäuser plattgemacht werden, nur, damit da Neubauten mit ner besseren Rendite draufkommen.
Soweit die Wörter von Gerhard Frey. Genauso wie es den alternativen Gruppen in jenen Jahren gelang, den Bau des Kernkraftwerkes Wyhl ("Nai hänn mr gsait!") zu verhindern, schafften sie es auch, den Erhalt des seit 1974 unter Denkmalschutz stehenden Gebäudes zu erreichen ("Hände weg vom Dreisameck!"). So blieb die Fassade unverändert erhalten, und nur im Innern gab es größere bauliche Veränderungen. Ein perfektes Beispiel dafür wie unser Lebenstyl die Umgebung umformen kann. Die Stadt gehört wir!
Ort | Freiburg im Breisgau |
Autor | arturoromero |
Kategorien | Stadtbild |
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